In der Judenstadt

Rezensionen

Paulus Adelsgruber, Illustrierte Neue Welt, Ausgabe 3/2015



Christen und Juden sind guter Dinge um die Jahreswende 1624/25: Die Christen jubeln, weil sie ihre jüdischen Nachbarn und Konkurrenten innerhalb der Stadtmauern los sind, die Juden hoffen auf Ruhe und Sicherheit in dem durch Kaiser Ferdinand II. zugewiesenen Stadtteil jenseits der Donau.


Die Epoche vom Einzug der Wiener Juden im Unteren Werd (der späteren Leopoldstadt) bis zu ihrer Vertreibung 45 Jahre später bildet den historischen Rahmen für die Erzählung „In der Judenstadt“ (Czernin Verlag) von Claudia Erdheim: Die Autorin hat sich eingehend mit der Materie beschäftigt, neben den Wiener Geschehnissen zitiert sie epochenprägende Ereignisse wie den 30-jährigen Krieg und den Chmelnyzkyj-Aufstand. Ein Quellenverzeichnis ist beigefügt.  


Die Leserinnen und Leser haben sich um derartiges wenig zu kümmern – die Handlung reißt sie auf temporeichen 130 Seiten mit sich fort: Hinaus zunächst mit Sack und Pack aus den Stadtmauern rund um Kienmarkt und Judengässl im strengen Winter, hinüber über die vereiste Schlagbrücke und mitten hinein in die engen Stuben der Judenstadt, in den Alltag jüdischer Händler und Steuereintreiber.


Im Zentrum steht die Familiengeschichte des Tuchhändlers Jocham Gerstl und seiner Frau Lena: Jocham ist viel unterwegs, zweimal im Jahr besucht er die Linzer Märkte, dazu kommen Reisen nach Prag und Mähren. Lena näht zuhause Kleider, gebiert und ernährt Kinder, die sie allzu oft dann am Sterbebett betrauert. Anhand zahlreicher weiterer Figuren bringt Erdheim einen Querschnitt der sozialen Gruppen der Judenstadt, die alsbald durch eine Mauer abgeschirmt (und zugleich geschützt) wird: Das Spektrum reicht von der armseligen Mehrheit der Krämer bis zur wohlhabenden Minderheit der Münz- und Hofjuden, sowie von frommen Halachisten über Messianisten (Sabbathai Zwi ist in aller Munde), Kabbalisten bis hin zu den Synagogenvermeidern.


Es ist dann die spannungsgeladene Kontaktgeschichte der Judenstadt mit der „Außenwelt“, die die Erzählung vorantreibt. Die Autorin schöpft hier aus dem Vollen und zeigt ein schwieriges Beziehungsgeflecht: Es reicht von gegenseitiger Hilfestellung, etwa in Form der ärztlichen Versorgung (schön gezeichnet: der allseits verehrte Medikus Elia Chalfan) am einen Ende der Skala bis hin zu wiederkehrenden Ritualmordvorwürfen und Gewaltausbrüchen am anderen Ende: Immer wieder ist es die Wiener Studentenschaft, die das Ghetto mit Plünderung und Mord bedroht. Zwischen diesen Polen ist viel Raum für die verschiedensten Formen alltäglicher Interaktionen, wozu Geschäftsbeziehungen ebenso zählen wie christliche Missionsbestrebungen. Dazu kommen viele Lebensbereiche, in denen sich Juden und Christen voneinander abschotten.


Was aber passiert, wenn es zu interreligiösen Intimitäten kommt, illustriert die Affäre zwischen dem (seiner zänkischen Frau überdrüssigen) jüdischen Pfandleiher Samuel Israel und der Christin Anna Stöffler. Als ihre Schäferstunden auffliegen, müssen beide die Stadt verlassen: Sie auf Anordnung des Wiener Stadt- und Landesgerichts, er auf Geheiß der jüdischen Gemeinde. Bitterböser Nachsatz, hier dem Gedankengang des Vaters folgend: „Samuel hatte ganz recht. Aber es hätte keine Christin sein dürfen.“ Dem verengten Horizont, von Juden ebenso wie von Christen, stellt sich die Autorin durch derartige Pointen immer wieder in den Weg, ohne dabei je zu werten.


Erdheims Schreibstil ist sachlich, schonungslos und lakonisch. Das passt gut zu Form und Umfang dieser Erzählung. Die Sätze sind gewohnt kurz, die Handlung wird atemlos vorangetrieben. Es fehlt nicht an Ironie – sie reicht von einer unschuldigen Schalkhaftigkeit bis zur bitterbösen Satire. Auf die Spitze getriebene Lakonie führt zu komischen Momenten: „Die Synagoge brennt. Eine Kerze ist umgeknickt. (...) Nur der Schammes ist in der Synagoge. Er rennt hinaus und schreit: Die Synagoge brennt!“. Gefolgt im Absatz darauf von: „Lembels Pferde haben alle Läuse. Eine Katastrophe. Ununterbrochen kratzen sie sich. Ein Pferd mit Läusen kann er weder verkaufen noch vermieten.“


Die Geschichte der Familie Gerstl nimmt einen unheilvollen Lauf, als Jocham zum Steuereintreiber innerhalb der Judenstadt bestimmt wird. Bald geraten die Eheleute in einen Strudel an Missgunst und Verleumdung, an dessen Ende der gewaltsame Tod der nach historischer Vorlage geschaffenen Figur der Lena Gerstl steht. Die genauen Hintergründe werden in der Erzählung ebenso wenig aufgedeckt wie vor 350 Jahren.


Und dann naht das Ende der Judenstadt am Unteren Werd: Der Schutz durch den Hof beginnt im Jahr 1666 zu bröckeln, als Kaiser Leopold I. die antijüdisch gesinnte Spanierin Margarita heiratet. Zum Tod des Neugeborenen gesellt sich der Großbrand der Burg („ein böses Vorzeichen“). Der Volkszorn lenkt sich auf die Juden, Bischof Kollonitsch heizt ihn weiter an. Vorwürfe der Steuerhinterziehung an den im Ghetto ebenso einflussreichen, wie ungeliebten Hirschel Meyer tun ein Übriges: Bis zum Fronleichnamsfest 1670 müssen alle Juden Wien verlassen.


Claudia Erdheim präsentiert ihre Erzählung leichtfüßig vor dem Hintergrund eines sorgfältig recherchierten historischen Rahmens. Wie in ihren letzten beiden historischen Romanen Betty, Ida und die Gräfin und Längst nicht mehr koscher unternimmt sie auch hier den Versuch, zu zeigen „wie es hätte sein können“. Ein überaus gelungenes Unterfangen.


 


Post aus Wien – Nicht lustig in der Judenstadt


Vierhundert Jahre her das Ganze, na und? Im Czernin Verlag wurde einfach ordentlich abgestaubt. Versiert und lebhaft, durchsetzt von zahllosen jiddischen Begriffen, weiß Claudia Erdheim vom Schicksal der Wiener Juden in der Zeit von 1625 bis 1670 zu erzählen. Schlecht ging es denen ja irgendwie immer. Ghettoisierung, Armut, Steuerlast, Krankheiten, schlechte Geschäfte, alles ein großer Jammer. Und zu allem Überfluss, die Donau. Immer wieder stand die Judenstadt (die heutige die Wiener Leopoldstadt) unter Wasser. Lauter “Verhängnisse des Himmels” und Schrecken: “Da behüte uns Gott davor!” Doch Lena und ihre Mischpoche geben sich wehrhaft und wendig bis zum Schluss und sorgen für manchen Glanz in der Stadt und manches Schmankerl. Erdheims Sprache passt sich dem tagtäglichen Überleben an, ist flott, zierdelos, protokollartig, stets im Präsens, die Figurenreden nur mit lapidaren Spiegelstrichen abgesetzt – großartig.


Endlich sind die Juden weg und weg sollen sie bleiben.” Wien, Anfang 17. Jahrhundert, die jüdische Bevölkerung wird endgültig aus der Stadt vertrieben und in der »Judenstadt« außerhalb der Stadtmauern angesiedelt. Unter ihnen ist Lena Gerstl, deren bewegtes und schweres Schicksal Claudia Erdheim fast 400 Jahre später zum Leben erweckt.

Der Kampf um Rechte, Duldung und Überleben war Teil des Alltags der Wiener Juden, die nach einem Erlass des Kaisers 1624 gezwungen waren, ein neues Leben aufzubauen. 1670 wurde die “Judenstadt” aufgelöst, die Bewohner waren wieder ohne Bleibe. Claudia Erdheim erzählt die Geschichte einer Ehefrau und Mutter, die den ständigen Anfeindungen der Christen, dem Druck der steigenden Steuern sowie Krankheit und Seuchen standzuhalten versuchte.

Ein wenig beachtetes Kapitel der österreichischen Geschichte wird in diesem Text lebendig. Mit ihrem klaren und prägnanten Stil porträtiert Claudia Erdheim die Geschichte einer Verbannung und den Versuch eines Neuanfangs. (Czernin Verlag 2015)


 

Claudia Erdheim: In der Judenstadt. Erzählung. Wien: Czernin Verlag 2015. 144 Seiten. 18,90 Euro. E-Book: 14,99 Euro.

 


Senta Wagner


https://derhotlistblog.wordpress.com/2015/09/28/post-aus-wien-nicht-lustig-in-der-judenstadt/