Ohnedies höchstens die Hälfte

Rezensionen

Wahn in der Wienzeile

Georg Eyring, 6. 5. 1988

 

Wanderschaften. Sie führen von der Linken und Rechten Wienzeile, über Naschmarkt und Karlsplatz, der Urania zu - durch den Bauernmarkt zum Graben in die Blutgasse - von der Plankengasse bis zur Stallburg oder über die Marienbrücke zum Morzinplatz, aber nicht durch die schon seit der Schulzeit verhaßte Wipplingerstraße. Streifzüge werden unternommen zu Deuticke, Schaden, Gilhofer, Walter Klüngel, Heck, Ferenczi, Löcker + Wögenstein und in das Antiquariat in der Lerchenfelderstraße.

In Claudia Erdheims Roman "Ohnededies höchstens die Hälfte" zieht Marina aus, um zu entschlüsseln, was um sie vorgeht, ihr aber unerklärlich ist. Marina ist vernünftig. Aber vielleicht hat sie einen Wahn.

Marina ist Programmiererin. Sie ist die Freundin von Hans, der sie aber eigentlich nicht leiden kann. Hans ist Universitätsprofessor, "internationaler Ruf", 45, arriviert und chaotisch. Hans hat verdrehte Schlafgewohnheiten und einen gräßlichen Hang zu Büroklammern, mit denen er seinem Ohrenschmalz zu Leibre rückt.

In der Wohnung von Hans wird eine Scheibe eingeworfen mit einer Weinflasche. Im Stockwerk darüber wohnt Peter, der betrunken ist und sich umbringen will, sagt er. Hans sagt: "Nichts wird geschehen." Absurde Telefonate, Wirrwarr, Pallawatsch. Hans schläft, Peter weint, das Telephon läutete.

Marina hat es satt, wittert Unrat überall, kombiniert, macht sich verrückt und beschließt, dahinterkommen zu wollen was sie sich nicht merken, die anderen aber kalt läßt.

Peter hat einen Lehrauftrag für Politik, der aber in Gefahr ist. Er ist vollkommen chaotisch, aber nett vielleicht auch ein bißchen kriminell - irgendwie mit Rauschgift, alten Büchern und Graphiken.

Die Ärztin, die Psychiaterin aber wenig hilfreich, die Peter auch kennt, weil ohnedies jeder jeden kennt, hat einen Lebensgefährten, die Unperson, die ihr alles nach plappert, also ziemlich blöd ist.

Professor Glück ist nicht wichtig, aber nett; er ist "auf jedermans Seite". Wichtig aber ist die Professorin, die Bücher und Graphiken aus der Donaumonarchie sammelt und einen Assistentin hat, die vorkommt, weil Peter mal etwas mit ihr hatte, der dubiose Frauengeschichten hat und nervös und gefährdet ist oder das jedenfalls vorgibt.

"Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden." Diese Erkenntnis Marcel Prousts ist der Gegensatz zu dem, was Marina nicht lassen kann. "Es gibt nichts zu wissen! Marina will es aber wissen. Und so wächst die Verdacht, daß die Dinge nur noch deshalb geschehen, weil Marina sie beobachtete und ihre Kombinationen anstellt. Schließlich besteht Wien fast nur aus Literatur.

Vielleicht hat Marina einen Wahn. Marina ist Autistin. Sie will vor allem ihren Vermutungen auf die Spur kommen. Dafür tappt sie kreuz und quer am hellichten Tag im Dunkeln und prognostiziert, registriert und falsifiziert Konstellationen. Sie gerät in immer größere Distanz zu dem, was um sie vorgeht. Ihre Wege sind das Ziel.

Dieser dritte Roman Claudia Erdheims ist absurd und amüsant. Die Heldin ist eher negativ, geht aber positivistisch vor. Sie will ihrer Wirklichkeit auf die Spur kommen, nur sich überzeugen, niemanden sonst. Und der Leser zieht mit - nicht zu seinem Schaden. Ein abgedruckter Plan der Inneren Stadt hilft ihm ebenso wie ein Glossar der Restaurants, Caféhäuser und Viennismen.

Noch nie ist knapper gnadenloser dieser ganze postmoderne Muff der jetzt etablierten und der Politik entronnenen Akademiker um die 40 geschildert worden, die vor allem mit ihrer Karriere und ihren Neurosen kommunizieren. Und in allem waltet das böse, vercliqute und verklatschte Wien und die Einsicht in die unauswechlichen Notwendigkeiten von Isolation und Resigantion. "Dies Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält." (Hebbel)

Hans geht das ohnedies nichts an - Hans ist ohnedies unschuldig - Hans erfindet schon wieder eine ganz miese Ausrede, die ohnedies jeder durchschaut - Möglicherweise hat ohnedies alles nichts zu bedeuten - Wieso soll Peter mit Hans in die Bibliothek gehen, wo Hans doch ohnedies immer allein in die Bibliothek geht - dafür muß er sich jetzt für jeden Groschen die Haxen ausreißen, während diese Arschlöcher ohnedies genug Geld haben - Obwohl Marina weiß, daß Hans ihre Neugierde nicht ausstehen kann und daß sie vermutlich ohnedies nicht die Wahrheit erfährt ... - Hans hört ohnedies nichts - Würde Marina ihn fragen, wo er sich herumtreibt, bekäme sie ohnedies nur eine Lüge als Antwort.

Davon abgesehen kann sie Hans und Peter ohnedies nicht im Auge behalten, weil sie nachtblind ist.

 


Elsbeth Wolffheim

Der Rabe, 1988, H. 22 S 198

 

Claudia Erdheims dritter Roman spielt im Wiener Universitätsmilieu und hat zum Hintergrund irgendwelche kriminellen Machenschaften, in die ein Professor und ein Lehrbeauftragter verwickelt sind, wie sehr, das wird Schritt für Schritt aufgedeckt, wenn - ob in Drogenhandel und/oder Unterschlagung von wertvollen Bibliotheksbüchern - das bleibt halbwegs im Dunkeln. Aber das ist auch gar nicht entscheidend. Was an diesem Roman besticht, ist die Erzählung, die sich zu keinerlei Erklärung oder Deutung herbeiläßt, sondern immer neue Verdachtskonstellationen aufbaut, wieder verwirft, neue konstruiert und dadurch den Eindruck eines undurchdringlichen Chaos erzeugt. Die Gegenbewegung gegen diese Chaos wird durch die rasante sprachliche Präzision der Autorin hergestellt, die mit unterkühlter Ironie, kunstvoller Sachlichkeit und entlarvender Komik die Handlungsfäden kommentarlos entknotet und ordnet. Das ist meisterlich gelungen und verschafft einen intellektuellen Genuß von hohen Graden.