Längst nicht mehr koscher

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Familiensaga - Claudia Erdheims „Längst nicht mehr koscher“

Alois Woldan, Literatur und Kritik, April 2007

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Rezension - Alois Woldan, Literatur und Kritik, April 2007
Familiensaga - Claudia Erdheims „Längst nicht mehr koscher“
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Geschichte der Erdheims

Günther A. Höfler, Illustrierte Neue Welt, Februar/März 2007

 

Zweifellos fällt dieses Buch aus der Reihe genretypischer Familiensagas, die in letzter Zeit den Buchmarkt angeführt haben, man denke an Franzen, Foer, Lewinsky u.a. Auch formal hebt es sich von diesem sattsam bekannten Sinnstiftungsmuster ab, die beiden Untertitel zeigen es an: Roman und Familienhistorie in einem, modisch gesagt, ein Hybrid. Erzählt und teils unter Einfügung historischer Dokumente wird die Geschichte der Erdheims von 1866 bis 1945 berichtet, als Tea, die durch ihren rebellischen Geist, ihren Mut und den enorme Durchhaltewillen faszinierende Mutter von Claudia Erdheim, den Widerstandskämpfer Lenz heiratet. Die Autorin nimmt somit Abstand von einem autobiographischen Sich-Einschreiben in diese Geschichte, anders etwa als Peter Singer in seiner Familienhistorie "Mein Großvater", mit der Erdheims Konzeption am ehesten vergleichbar wäre. "Längst nicht mehr koscher" folgt, dem Titel gemäß, dem Verlauf einer Assimilation, besser: dem Traum von deren Gelingen. Dieser bestimmt wesentlich das Leben der fünf Söhne des aufgeklärten Moses Hersch, Besitzer eines Petroleumbetriebes im galizischen Boryław. Dieses Assimilationsstreben jedoch wird als höchst ambivalent erkennbar gemacht, weil die Autorin durchgehend die Lebenshoffnungen der Personen der durch historische Zeitungsmeldungen dokumentierten politischen Meinung (über die Juden) gegenüberstellt. So etwa, als die Erdheims im ersten Kriegsjahr auch wie ihre Wiener Umgebung Weihnachten feiern und die Rede auf Jakob kommt, der als Arzt an die Front ist: "- Ein jüdischer Held. – Es gibt doch keine jüdischen Helden". Die Autorin hat für diese Rekonstruktion des Erdheimschen Familiengedächtnisses polnisch und jiddisch gelernt, um die in diversen Archiven gelagerten Zeugnisse Zeitungsmeldungen u.a. nutzen, sowie die Briefe ihrer 'Mischpoche' lesen zu können. Etliche dieser teilweise sehr berührenden Briefe haben ins Buch Aufnahme gefunden und illustrieren anschaulich und berührend die Lebensatmosphäre der Zeit, manche davon sind Claudia Erdheim zufolge auch fingiert, und zwar so stilgetreu, dass sie für den Leser ununterscheidbar sind. Anhand der aufstrebenden Söhnegeneration, (Ärzte, Unternehmer, Anwalt) entwirft die Autorin ein facettenreiches Panorama jüdischen Lebens einige davon mutet gewiss bekannt an, denn die Erdheims scheinen keine atypische Familie zu sein. Individuelle Schicksale wie berufliche Krisen, Krankheiten, Ehebrüche oder aus der Konvention fallende Lebensweisen kommen ebenso ins Bild wie kulturelle Vorlieben (Schnitzler- und Nordau-Lektüre, Kraus-Vorlesungen u.a.m.). Ein Drittel des Buches machen die Verhängnisse aus, wie sie ab 1934 auf die Familienmitglieder hereinbrechen, in Österreich, Polen, der Ukraine und Ungarn. Erdheims Erzählanordnung, nämlich die einer Schilderung von individuellen Lebensläufen am historischen Leitfaden entlang, erfährt in diesem Teil eine besondere Verdichtung, wo die Überwältigung und teilweise Vernichtung der Menschen durch die Politik dargestellt wird. Die Autorin verwendet die für ihre Schreibweise typische, schnörkelfreie Hauptsatztechnik, die konsequent eine sentimentale Einfühlung des Lesers bzw. eine Erzählillusion hintertreibt, sodass das Werk an keiner Stelle gefährdet ist zum Familienschmöker zu werden. Durch diesen stilistischen Kunstgriff gelingt es ihr, das Grauen unvermittelt, ohne Abfederung mitzuteilen: "Der letzte Schmuck muss auch mit. Ein Ring, eine Kette und eine Uhr. Sie werden zu einem Sportplatz gebracht. Dort sind schon viele Menschen versammelt." Und diese emotionalisierte Form der Vergegenwärtigung von Ereignissen ist überaus effektiv: es geht letztlich doch auch darum, in stimmiger Weise für die literarische Erfahrung Terrain zurückzugewinnen, das endgültig von der Geschichtsschreibung vereinnahmt scheint. Ob für diesen Chronik-Roman das Präsens als Erzähleinheit angemessen ist, muss unentschieden bleiben, vielleicht folgt sein Einsatz auch keinem speziellen poetischen Kalkül, zumal Claudia Erdheim alle ihre Erzähltexte im Präsens schreibt. Dass dieses Tempus aber eine besondere Nachdrücklichkeit kennzeichnet, ist freilich unleugbar. Claudia Erdheim hat einen wichtigen Geschichtsroman mit hohem Authentizitätsgrad und ungeheurer Dichte geschrieben, der den abgründigen Irrwitz der österreichischen Vergangenheit direkt angeht, ohne auf wohlfeile Unterhaltungseffekte zu schielen.